Früher war alles besser

Rezensionen

Claudia Erdheim erzählt Geschichten aus Rußland

 

Es war genau die Zeit des Übergangs, als Claudia Erdheim mit Unterbrechungen in Rußland lebte. Zwei Jahre etwa weilte sie nicht nur in Moskau, sondern reiste auch durch das weite Land. Ihr Aufenthalt endete am 29. September 1998, sechs Wochen nach Beginn der Krise. Doch auch davor schon war das Leben dort nicht so einfach, spielte sich der Alltag ganz anders ab als im seit 50 Jahren friedlichen und satten Westen. Mit fünf Erzählungen, merkwürdigen Geschichten über ein merkwürdiges Land und seine Menschen, berichtet Erdheim von ihren russischen Begegnungen, Abenteuern und Eindrücken. Erdheims Gabe, auch im größten Elend das Komische zu sehen, im größten Chaos das Lächerliche zu finden, hebt die Erzählungen aus Rußland weit über jeden Reisebericht hinaus. Diesen, den ganz normalen Reisebericht, gibt sie mit einem begleitenden Fotoband. Doch Claudia Erdheim ist Schriftstellerin, keine Fotografin. Auch wenn die Schnappschüsse dicht an dicht gereiht sind, sie unterscheiden sich kaum von denn altbekannten Bildern aus Rußland oder der Ukraine. Dass sie jedoch auch im (neuen) Rußland nicht einfach zu machen waren, weil immer noch Altfunktionäre an alten Verboten hängen, ist nur eine Facette in dem bunten Mosaik des uns so fremden Landes. Seit Erdheims Rußlandbesuch sind die Zeiten für die Menschen dort nicht besser geworden, wie sie mit dem schweren Leben zurecht kommen, das ist sicher gleich geblieben und wird von der Autorin mit Zuneigung beschrieben.

 

 

Elsbeth Wolffheim

Claudia Erdheim: Früher war alles besser. Geschichten aus Rußland. Wien: Locker Verlag 1999. und Claudia Erdheim: Eindrücke. Russischer Alltag in Bildern. Wien: Locker Verlag 2000.

Wespennest 123, 3. Quartal, Juni 2001

 

Da war doch noch was? Ja richtig: «Die Lichte Zukunft»! Davon hat man doch immer geschwärmt, damals in der Sowjetunion. Nur hat sich die Lichte Zukunft inzwischen total verkrümelt. Stattdessen schwärmt man heute in Russland von der lichten Vergangenheit. Das jedenfalls musste sich Claudia Erdheim öfters anhören, während sie - mit Unterbrechungen - zwischen 1995 und 1998 in Russland lebte. Ihre Eindrücke hat sie unter dem bezeichnenden Titel publiziert: Früher war alles besser. In diesem Buch hat die 1945 in Wien geborene Autorin einzelne Lebensschicksale aufgerollt, die einen Querschnitt aus dem heutigen Alltag zeigen. Wohlgemerkt: keine Prominenz, keine hochrangigen Politiker, keine berühmten Künstler hat Claudia Erdheim porträtiert, sondern Menschen aus der Mittelschicht. Der Zugang zu ihnen war leicht: Die Autorin, die perfekt Russisch spricht, hat nämlich immer in Privatquartieren gewohnt, ob in Moskau, in Petersburg oder Kasan. Und da kriegt man unweigerlich alles mit, was man erfahren möchte: über die Wohnverhältnisse, über Renten und Gehälter, über Festtagsbräuche und die politische Gesinnung. Und das nicht nur bei den Vermietern, sondern auch bei deren Verwandten und Freunden, die vorbeischauen, um die Frau aus dem Westen kennen zu lernen. Schnell hat sich nämlich herumgesprochen, dass sie Schriftstellerin ist. Vielleicht auch Journalistin? Das wäre noch besser, denn dann könnte sie ja die Informationen, mit denen die Freunde und Cousinen sie überschütten, in den Westen lancieren. Aber wozu? Glauben sie wirklich, der würde hellhörig bei ihren kleinen Alltagstragödien?

Egal, der Musiker Kolja glaubt das. Ihm hat man die Wohnung gestohlen. Zwei junge Männer drangen bei ihm ein, haben ihn gefesselt und dann gezwungen, sie ihnen zu überschreiben. Hätte er sich geweigert, hätten sie ihn kalt gemacht; das kommt in Russland häufig vor. Aber Kolja gibt nicht auf. Vier Jahre schon kämpft er vor Gericht um die Rückgabe, unter anderem mit Hilfe windiger Advokaten. Claudia soll mit zu den Gerichtsverhandlungen. Die Frau aus dem Westen könnte doch das Gericht einschüchtern! Mittlerweile hat der russische Kohlhaas zu trinken angefangen, zwischendurch kam er sogar in die Psychiatrie. Aber dann taucht er wieder auf und kämpft weiter. Einer von vielen.

Oder die eigene Krankengeschichte der Autorin, auch so eine Facette aus der Chaoswelt. Sie leidet schon länger unter einer schweren Darmkrankheit und gerät an eine resolute Spezialistin für Akupunktur. Während die geschickt die Nadeln setzt, schwärmt sie von der Vergangenheit. Da gab es keine Kriminalität, keine Drogen, keine Armut; die Wurst war besser, überhaupt alles! Einreden lässt sie nicht gelten, sie muss es ja wohl besser wissen. Auch die Concierge weiß es besser: Unter Stalin hat «Ordnung geherrscht». Aber Moment, da hat doch die «Angst geherrscht»? Darauf die himmelschreiende Antwort: «Nur die Intelligenz hat Angst gehabt.» So könnte man noch und noch zitieren. Aus dem Krankenhaus, in das die Autorin eingeliefert wird, von den Wochenmärkten, wo man ihr die Kamera entreißen will, weil Fotografieren angeblich verboten ist, undsoweiter, undsoweiter. Der Reiz dieser authentischen Notate besteht darin, dass Claudia Erdheim nur beschreibt, was sie sieht und hört, ohne zu kommentieren - wie ein Nachrichtensprecher. Sie springt mitten in eine Szene hinein, meist mit einem Dialog, aus dem tröpfchenweise Details aus dem Leben des Gesprächspartners heraussickern. Der Leser baut sich dann die Vorgeschichte selber zusammen. Diese Technik der allmählichen Entlarvung - scheinbar ohne auktoriale Einmischung - wirkt sehr überzeugend. Was die Autorin denkt und fühlt, hält sie mit spröder Diskretion zurück. Meistens jedenfalls. Nur da, wo sie mit den Auswüchsen der russischen Volkskrankheit des laissez faire allzu direkt in Berührung kommt, in dreckigen Treppenhäusern und stinkenden Toiletten, da rutscht ihr mal ein «Brrr» heraus.

Zur Beglaubigung kann man das auch direkt anschauen. Es gibt nämlich von diesem Russland-Aufenthalt auch einen spannenden Foto-Band, in dem keine Monumentalbauten paradieren, sondern Kleinteiliges und allerlei Tristes: Bettler, Krüppel, Marktstände, verrottete Straßen, herrenlose Hunde. Dazwischen Reste vom alten Glanz: pompöse Metrostationen, feierliche Umzüge, angeführt von Senioren mit der scheppernden Ordenspyramide vor der Brust. Und dann die Fotos von Studenten, die Hoffnung machen, dass es doch aufwärts geht, irgendwann. Claudia Erdheims Lieblingsmotive in beiden Büchern: die alten Frauen mit den runden, freundlichen Gesichtern. Das nämlich gibt es in Russland zuhauf: unverstellte Güte, Hilfsbereitschaft, Fürsorge für den Nächsten, vor allem für den Gast. Davon hat die Autorin profitiert, und darum liebt sie Russland. Man kann es nachlesen und nachfühlen.